Thomas Golsenne

 

GESPRÄCH ÜBER DIE GESPRÄCHE

 

 

Tilburg (Niederlande), April 2013. Vater und Tochter besichtigen eine Ausstellung zeitgenössischer Kunst in einer ehemaligen Werkshalle für Züge. Unter den Kunstwerken ist es insbesondere eine Arbeit von Peter Buggenhout, die den Vater beeindruckt, ein gigantischer Haufen von Eisenträgern, Wänden und Bauschutt auf einem Tieflader. Begeistert spricht er von Expressionismus, dekonstruierter Architektur, von Nomadismus und der Zerbrechlichkeit des Daseins. Die Jugendliche hört sich an, was ihr Vater sagt, scheint aber nicht besonders interessiert. Sie gehen weiter und kommen in einen wesentlich stilleren, ruhigeren Raum. Ungefähr zwanzig, sehr unterschiedliche Objekte sind hier in gehörigem Abstand zueinander am Boden platziert. Einige davon sind sofort wiedererkennbar: eine Bushaltestelle; ein ausgestopftes Reh: eine Kiste voller Scherben von weißem Geschirr; Tischtücher und Decken, auf einem Holzgestell aufgehängt; eine alte orangene Türe; Nüsse; eine elektrische Eisenbahn. Andere wiederum scheinen vom Künstler manipuliert zu sein: Ein Schrank wird von einem toten Baum durchquert; ein Stuhl hat ein Bein aus transparentem Kunstharz; ein großer Baumstamm wurde grob mit der Säge bearbeitet; auf einem Tisch mehrere Gläser, durchquert von einem Goldfaden; auf einem anderen sind weiße Tropfen einer Kerze ausgebreitet; durch einen dritten Tisch scheinen zwei Glasblasen die Form einer leeren Sanduhr zu zeichnen. In der Mitte des Raumes, an einer Seite, stehen zwei Glasvitrinen, angefüllt mit mehr oder weniger leicht identifizierbaren Gegenständen: einem Nagelfetisch aus dem Kongo, einem wieder zusammengeklebter Teller, einem gravierten Glas, durchlöcherten Flaschen, einem Abakus, einer russischen Puppe, ebenso perforiert wie ein Straußenei, Kiesel und Klümpchen aus Silber sowie zwei eigenartigen Brocken mit identischer Form, der eine schwarz, der andere weiß. Mit zwei anderen Objekten schließlich kann der skeptische Vater gar nichts anfangen: einer runden Glasscheibe, flach auf den Boden gelegt, in der Mitte zwei Ohren aus Bronze, und dann einem aufrecht stehenden achteckigen Holzkasten mit runden Öffnungen auf beiden Seiten, an dem eine dunkle Glasscheibe lehnt und in den einfach bunte Glasmurmeln gelegt sind (einige davon sind auch auf den Boden gerollt).

 

Die Augen der Tochter leuchten. Eine ganze Weile bleibt sie vor den Vitrinen stehen, trotz der Seufzer ihres Vaters, der nicht verstehen kann, was seine Tochter an diesen belanglosen Sachen interessant findet. Und als er feststellen muss, dass das Mädchen ganz gefesselt von einem Tisch zum andern geht, sorgfältig das Bushäuschen untersucht, dann vom Reh zur runden Glasscheibe geht und vom Baumstamm zur Tür und so weiter, hin und her, da setzt der Vater seine Besichtigung alleine fort, sichtlich genervt. Eine Stunde später, nachdem er den Rest der Ausstellung gesehen hat, kommt der Vater zurück und trifft seine Tochter an, die gerade die Modelleisenbahn betrachtet. Er schlägt ihr vor, im Café eine heiße Schokolade trinken zu gehen. Neugierig geworden durch die in seinen Augen sehr merkwürdige Begeisterung seiner Tochter für diese Installation – ihm war es nicht einmal die Mühe wert, den Namen des Autors herauszufinden –, fragt er sie:

 

DER VATER: Ich verstehe das nicht. Du stehst da seit einer Stunde vor einer elektrischen Eisenbahn. Wenn du willst, dann kaufe ich dir eine zu deinem Geburtstag. Aber das ist nicht, was ich unter Kunst verstehe. Ein Künstler ist kein Mensch wie alle anderen. Er stellt Dinge her, die ihm niemand nachmachen könnte, weil er ein Talent hat, einen Blick, eine Vorstellungskraft, die nur ihm eigen sind. Er muss den Betrachter mit der Beherrschung des Materials beeindrucken, mit der Kraft seiner Vision, der Größe seines Werks. Rembrandt beeindruckt mich, Picasso beeindruckt mich, Buggenhout beeindruckt mich. Aber einfach eine Bushaltestelle herzunehmen, im Internet ein ausgestopftes Reh zu kaufen, eine Modelleisenbahn aufzubauen oder Geschirr zu zerbrechen, das beeindruckt mich nicht: Das kann ich auch. Das ist in meinen Augen also keine Kunst.

 

DIE TOCHTER: Du gibst zumindest zu, dass dein Urteil parteiisch ist. Da kannst du doch auch zugestehen, dass es noch andere Sichtweisen von Kunst gibt. Lass mich dir außerdem sagen, dass du ein bisschen zu schnell durch diese Halle gegangen bist, um wirklich zu verstehen, worum es geht. Man muss sich hier schon ein bisschen Zeit nehmen (erinnere dich, das Thema dieser Ausstellung ist ja eben Zeit), muss die Dinge alle einzeln untersuchen und vor allem ihre Anordnung zueinander in Augenschein nehmen. Denn es gibt viel Arbeit in dieser Installation – ganz im Gegensatz zu dem, was du sagst. Sie ist nur nicht sofort ersichtlich, ist nicht spektakulär. Sie fordert vom Betrachter ein wenig Nachdenken.

 

DER VATER: Ich bin wohl zu dumm, um das zu verstehen. Dann erkläre es mir doch, wenn du so fleißig nachgedacht hast.

 

DIE TOCHTER: Du spielst gern Darts, ich finde Schach besser. Die Schönheit der Geste, das ist für dich der kürzeste Weg von der Hand zum Zentrum der Zielscheibe. Für mich ist es die Platzierung der Figuren auf dem Spielfeld, strategisch so organisiert, dass jede Figur mit der anderen in Verbindung steht und keine isoliert ist. Die Strategie des Schachspiels besteht ja darin, Netzwerke zu schaffen. Und genau darum geht es auch in der Installation, die mir so gut gefallen hat. Sobald man die Objekte als Teile eines Gefüges wahrnimmt, und nicht, wie klassische Skulpturen, jedes einzeln für sich, versteht man, dass das Kunstwerk das Netz selbst ist. Für die Entschlüsselung dieses Netzwerks ist es leichter, mit den Vitrinen anzufangen, die so etwas wie ein verkleinertes Modell der gesamten Installation sind. Du hast sicher festgestellt, dass diese Zwillingsvitrinen jeweils aus drei Ebenen bestehen. Auf diesen Ebenen sind sehr unterschiedliche Dinge platziert: industriell oder handwerklich gefertigte Objekte, Naturgegenstände und Unikate, wahrscheinlich vom Künstler gemacht. Gewöhnlich stellt man in Vitrinen Dinge zusammen, die sich ähneln, die Teller zu den Tellern, die Fotografien zu den Fotografien, die Bücher zu den Büchern. Hier nicht, hier muss man die Verbindungen zwischen diesen disparaten Dingen erst finden. Das ist wie ein Spiel, das dem Betrachter vorgeschlagen wird. Manchmal ist es eindeutig: In der ersten Vitrine, auf der mittleren Ablage, sind zwei Kaffeetassen aus schönem Porzellan (wenn auch ein wenig beschädigt) neben die zwei Brocken platziert, den schwarzen und den weißen. Übrigens ist mir bei genauerem Betrachten klar geworden, dass es sich dabei um ein verkohltes Stück Wurzelholz und dessen Spiegelbild handelt; wobei mir nicht klar ist, wie der Künstler das gemacht hat, denn wenn es ein Abguss wäre, wäre er nicht spiegelverkehrt. Das Auftreten von falschen Zwillingen, das ist das Verbindende zwischen den Tassen und den Wurzeln – oder wie der Mensch mithilfe von Maschinen identische und doch unterschiedliche Dinge schafft. Darunter: ein großer Kieselstein neben einer alten, ganz zerfledderten und mit Kunstharz überzogenen Zeitschrift; in beiden Objekten zeichnet sich kontrastreich je eine runde Form ab (dunkles Gießharz im hellgrauen Stein, eine helle Glaslinse auf dem dunkelbraunen Heft). In der zweiten Vitrine, auf der oberen Ablage, sind ein mit Nägeln bestückter afrikanischer Fetisch zu sehen, ein wieder zusammengeklebter Teller und zwei durchlöcherte Plastikflaschen. Ich dachte mir, dass es da eine Parallele gibt zwischen dem von den Nägeln durchbohrten Körper der Figur und den durchlöcherten Körpern der Flaschen, als hätte man ihnen die Nägel herausgezogen. Aber diese durchlöcherten Gegenstände verweisen auch auf das Straußenei und die russische Puppe, die ebenfalls durchlöchert sind und auf der darunterliegenden Ebene stehen. Auf dieser Ebene erscheinen zudem eine muslimische Gebetsschnur aus Plastik, Tischtennisbälle und ein Abakus; neben dem geografisch bunt zusammengewürfelten Charakter dieses Ensembles fällt vor allem die beharrlich immer wieder identisch wiederholte runde Form ins Auge. Was den zerbrochenen und wieder geklebten Teller auf der oberen Ablage anbelangt, muss ich zugeben, dass ich keinen Bezug zu den anderen, neben ihm auftretenden Objekten finde. Stattdessen steht er ganz offensichtlich in Verbindung mit anderen Objekten im Ausstellungsraum: Da ist natürlich zuerst die Kiste mit dem zerbrochenen Geschirr; aber auch die Walnüsse, die ja auch geknackt und dann wieder zusammengeklebt sind; dann der Stuhl, dem ein Bein abgesägt und durch eine Prothese aus Kunstharz ersetzt wurde; und schließlich die Tischtücher und Wolldecken, die Flecken, Flicken und Brandlöcher aufweisen.

 

DER VATER: Ok, du hast also Gemeinsamkeiten zwischen manchen Objekten in den Vitrinen und in der Installation gefunden, die sich scheinbar tatsächlich aufeinander beziehen. Aber das erklärt nicht die Präsenz des Rehs, der Bushaltestelle oder der Modelleisenbahn.

 

DIE TOCHTER: Man muss nur eine assoziative Logik finden, um diese Objekte einzubinden. Es ist leichter, nach Zonen der Annäherung zu denken. Das Reh zum Beispiel findet sich im Bereich des Baumstamms, des Stuhls und der runden Glasscheibe am Boden, auf die es den Blick richtet. Ich sehe da eine Art Rekonstruktion von Natur, von Wald (der Stamm lässt an Bäume denken und die runde Scheibe vielleicht an einen kleinen Teich). Zudem findet sich ja genau im entgegengesetzten Teil des Raumes der Schrank, der von einem Baum durchquert wird: vielleicht eine irgendwie gewaltsam gestimmte Inszenierung des Verhältnisses von Natur und Kultur. Die Beziehung zwischen dem Reh und dem Stuhl? Das Reh ist das einzige Objekt des Ganzen, das auch Tier ist, also das dem Menschen am nächsten stehende Objekt. Es scheint die Installation zu betrachten. Und der leere Stuhl, der in die gleiche Richtung schaut, wartet vielleicht auf den Betrachter, der sich draufsetzen wird, zumindest könnte er mit seiner Lehne für den Körper des Betrachters stehen. Natürlich verweist dieser Stuhl auch auf den anderen Stuhl, der neben der orangenen Türe steht, und auf die Bushaltestelle, die den Endpunkt der Linie Stuhl-Reh-Tür bildet. Die Tür, als Mittelpunkt dieser Linie, könnte einen Durchgang darstellen vom Außen zum Innen, von der Kultur zur Natur, oder umgekehrt. Übrigens könnten auch andere Objekte auf diese Umkehrbarkeit anspielen: der Tisch, der von zwei identischen Glasblasen durchdrungen ist, oder die Modelleisenbahn, die immerzu im Kreis herumfährt.

 

DER VATER: Ok, nehmen wir mal an, dass die Verbindungen, die du herstellst, nicht vollkommen willkürlich sind und vom Künstler auch so gedacht wurden. Der Sinn dieser Verbindungen wird mir aber dadurch immer noch nicht klar, das heißt: Was wollte der Künstler sagen mit seinen durchlöcherten oder zerbrochenen und wieder zusammengeklebten Gegenständen oder mit seinen umkehrbaren Objekten?

 

Ein älterer Herr, der am Nachbartisch sitzt, hört dem Gespräch zwischen Vater und Tochter schon seit geraumer Weile diskret zu. Jetzt aber steht er auf, geht auf sie zu und sagt:

 

DER PHILOSOPH: Entschuldigen Sie, dass ich so einfach in Ihr Gespräch platze; ohne zu wollen, ist es mir nicht entgangen. Aber da es ja offensichtlich kein intimes Gespräch war und es um ein Werk dieser Ausstellung geht – auch ich habe sie mir eben angesehen –, erlaube ich mir, Sie zu fragen, ob Sie vielleicht meine Meinung dazu hören möchten. Ich bin Philosoph und habe so meine Ideen, was den Sinn dieser Installation angeht.

 

DER VATER: Aber bitte doch, wir hören Ihnen mit Vergnügen zu.

 

DER PHILOSOPH: Dankeschön. Die junge Dame hier hat meiner Ansicht nach sehr gut verstanden, wie dieses Werk funktioniert (sie errötet). Aber sie ist wohl doch zu jung, um seine tiefere Bedeutung wahrnehmen zu können, hat sie doch den Blick ganz der Zukunft zugewandt, ohne die Vergangenheit zu berücksichtigen. Erinnern Sie sich an den Titel des Werks?

 

DIE TOCHTER: Still, a Conversation on Time. Ein Gespräch über Zeit. Still ist schwieriger zu übersetzen. Das könnte „noch“ oder „ohne Veränderung“ bedeuten.

 

DER PHILOSOPH: Genau. Die Zeit ist eines der Hauptprobleme der Philosophie. Augustinus sagt in seinen Confessiones, dass zwar jeder im Grunde weiß, was die Zeit ist, aber dass es sehr schwierig ist, sie zu definieren. Wie dem auch sei, wir wissen ja, wie wir die Zeit üblicherweise sehen: nämlich als Linie, Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft. Wir wissen auch, dass in anderen Kulturen und in anderen Epochen die Zeit als Kreis gedacht wurde: Das ist dann die zyklische Zeit der Mythen, die ewige Wiederkunft. Und Darstellungen dieser kreisförmigen Zeit finden sich nun auch in der Installation. Das Moebiusband aus Plastik, das in der ersten Vitrine liegt, ist geradezu die klassische Figur dafür. Eine andere ist der Rosenkranz, anhand dessen sich der Gläubige durch seine Gebete tastet. Denken Sie auch an die beiden Schnurknäuel, die zwischen den Nüssen platziert wurden: Während das eine sich abrollt, rollt sich das andere auf. Gibt es eine schönere Metapher für die Zeit, die sich aus sich selbst heraus nährt? Diese Überlegung gilt auch für das Stundenglas, das in einem der Tische steckt. Und die Modelleisenbahn, die Sie so irritiert, mein Herr, ist nicht auch sie wiederum ein Bild für die zyklische Wiederholung? Sie durchläuft ihre Strecke in Form einer 8, wie das Moebiusband, wie auch der Goldfaden, der sich durch die Trinkgläser auf dem Tisch nahe des Schrankes zieht.


Aber ich füge auch gleich hinzu, dass es neben den symbolischen Formen der Linie und des Kreises noch eine andere Art und Weise gibt, die Zeit zu sehen. Der Philosoph Bergson steht für eine solche Sichtweise: die Zeit als Dauer im Bewusstsein. Demnach ist dies die Zeit, die die Lebewesen und die Dinge verändert. Verschiedene Objekte verweisen nun wiederum auf die Zeit als Dauer, die sich in Form von Spuren den Dingen einschreibt: Gebrauchs- und Abnutzungsspuren auf der Tür, hervorgehoben durch die Scheibe aus orangenem Plexiglas, auf dem Stuhl, dessen diverse Übermalungen wie eine mehrfach abgekratzte und wieder restaurierte Malerei wahrgenommen wird, oder auf den ausgebreiteten Decken, deren Flecken und Flicken von einer Benutzung in der Vergangenheit zeugen; Spuren eines gewaltsamen Ereignisses, welches den Gegenstand verändert hat, wie beim hoffnungslos zerbrochenen Geschirr, dem wieder zusammengeklebten Teller oder dieser Tasse, deren Dekor in den Flammen verbrannt ist, und in der Nähe das gleichsam versteinerte, in Gießharz erstarrte Modemagazin. Aber ich spreche bislang ja nur von den Spuren, die vom Künstler gefunden und gewissermaßen gesichert wurden. Er hat auch selbst welche hergestellt, künstliche Spuren sozusagen: Die Oberfläche des Tisches, der in der Nähe der Tür und des Stuhls steht, weist kleine Mulden auf, wie falsche Fingerabdrücke; der Tisch neben der Bushaltestelle ist übersät mit Spuren von Kerzen – in Wirklichkeit falsche Spuren, weil es sich um Kunstharzabgüsse von Wachstropfen handelt. Falsche Spuren finden sich auch im Bushäuschen selbst, an dessen Wänden kleine Klümpchen aus schwarzer und grauer Knete klebten, manche von Alu-Papier bedeckt. Sie erinnern an Kaugummis, von Passanten dort hingedrückt. Sie sprachen vorhin von „Durchgang“, vom Innen zum Außen, von der Natur zur Kultur, symbolisiert durch die orangene Tür. Ich würde hinzufügen: ein Durchgang von der Vergangenheit zur Gegenwart, vom Leben zum Tod. Aber dieser Durchgang, wie Sie ganz richtig betont haben, ist nicht unumkehrbar. Der tiefere Sinn dieser Installation ist in meinen Augen also nicht das nostalgische Gefühl von einer unausweichlich verrinnenden Zeit, sondern im Gegenteil die Hoffnung auf eine Erneuerung, das Gefühl von einer aus den Trümmern der Vergangenheit erstehenden Regeneration.

 

DER VATER: Ihre Erklärung ist einleuchtend, ja sogar brillant. Ich frage mich nur, ob Sie dieses Werk nicht doch ein wenig überinterpretieren. Zwar geht sein Titel, Ein Gespräch über die Zeit, in die Richtung, die Sie andeuten, andererseits scheint es mir aber recht wenig gesprächig. Ich verstehe nicht, wie Dinge ein Gespräch führen können, außer in Metaphern, und ich verstehe auch immer noch nicht, inwiefern das als Kunstschaffen gelten könnte. Wo ist da der schöpferische Akt, wenn sich der Künstler damit zufrieden gibt, Gegenstände zu präsentieren? Einige davon scheinen freilich von ihm selbst gemacht zu sein, ich erinnere mich allerdings nicht mehr genau welche.

 

DIE TOCHTER: Zum Beispiel der Schrank, der von dem Baum durchdrungen ist, das Glas, an dessen Wandung ein Kieselstein klebt, oder der Haufen Kartons, der von einem Lichtstrahl durchquert wird und von dem wir bisher noch gar nicht gesprochen haben, oder auch der angesägte Baumstamm...

 

DER VATER: Ja, genau. Aber jedes Mal hat der Künstler einen schon existierenden Gegenstand genommen und sich damit begnügt, seine Form zu ändern, ihm etwas hinzuzufügen und so weiter. Er schafft nie eine neue Form. Und eben das ist, was ich künstlerische Arbeit nenne.

 

DER PHILOSOPH: Hören Sie, ich bin kein Kunstphilosoph, und ich hätte alle Mühe, Ihnen zu sagen, was Kunst ist. Aber ich habe einen Freund, der Kunsthistoriker ist und Ihnen vielleicht eine zufriedenstellende Antwort geben kann. Er wohnt in Brüssel, aber ich kann ihn diesbezüglich mal kontaktieren. Wenn Sie einen Abend in seiner Gesellschaft verbringen möchten, können wir seine Antwort hören und so diese spannende Diskussion wiederaufnehmen.

 

Vater, Tochter und Philosoph gehen auseinander, nachdem sie ihre Adressen ausgetauscht haben. Einige Tage später ruft der Philosoph den Vater an und lädt ihn zum Abendessen bei dem Kunsthistoriker ein, natürlich mit seiner Tochter. Am vereinbarten Abend treffen Vater und Tochter dort also den Philosophen wieder und lernen den Kunsthistoriker kennen, weiterhin eine elegante junge Frau, die sich als Anthropologin vorstellt. Während des ausgezeichneten Essens kommt das Gespräch auf den Anlass der ersten Begegnung zurück.

 

DER KUNSTHISTORIKER: Unser gemeinsamer Freund hat mir von dem Problem erzählt, das Sie hinsichtlich der Arbeit Burkard Blümleins beschäftigt. Sie fragen sich, kurz gesagt, wieso das Gespräch – so der Begriff, den der Künstler verwendet – zwischen Gegenständen, die im Handel erworben wurden, als Kunst gelten soll. Um darauf zu antworten, ist, denke ich, die Philosophie weniger nützlich als die Kunstgeschichte. Sie kennen sicherlich die Readymades von Marcel Duchamp.

 

DER VATER: Den Flaschentrockner, Fountain, das Fahrradrad... Ja, die kenne ich. Ich weiß, dass Duchamp ein dadaistischer Provokateur war, der sich seine Bekanntheit mit skandalträchtigen Coups erkaufte...

 

DIE TOCHTER: Ich habe gelesen, dass die Ausstellung seiner ersten Readymades in einer New Yorker Galerie völlig anonym war. Er hatte sie im Schirmständer am Eingang der Galerie platziert und nicht bei den anderen Kunstwerken. Auch gab es für sie weder ein begleitendes Hinweisschild noch waren sie im Katalog der Ausstellung aufgeführt. Ist ein Kunstwerk noch ein Kunstwerk, wenn es vom Publikum als solches nicht anerkannt wird und wenn es unsichtbar bleibt? In provokanterer Form stellte er diese Frage mit Fountain, seinem berühmten Pissoir, signiert von dem Unbekannten R. Mutt und 1917 bei der Jury des Salons der amerikanischen Unabhängigen eingereicht, die es ablehnte. Über seine bekannte Vorliebe für Jux und Verstellung hinaus, nahm Duchamp durchaus ernsthaft die Frage nach dem ästhetischen Urteil und seiner Grenzen in Angriff, hatte doch der Salon der Unabhängigen die Devise ausgegeben „No jury, no prize“, was so viel hieß wie: keine Auswahl. Trotzdem wurde Fountain als einziges Werk abgelehnt, da die Jury der Ansicht war, es könne nicht als Kunstwerk angesehen werden. Der prominente modernistische Fotograf Alfred Stieglitz – empört über die Reaktion der Jury, die seinen eigenen Ansichten widersprach – stellte sich auf die Seite von R. Mutt und fotografierte Fountain, ohne etwas von seinem wirklichen Autor zu wissen. Publiziert in der kleinen Avantgarde-Revue The Blind Man, illustrierte das Foto dann einen Artikel, der den Künstler verteidigt. Die Polemik bewegte das Milieu der New Yorker Avantgarde eine Weile, bevor sie schließlich, in den 30er Jahren, internationales Ausmaß annahm, als Duchamp zu einer Berühmtheit wurde und sich als Autor von Fountain zu erkennen gab. Duchamp war es gelungen, der Jury des Salons der Unabhängigen Widersprüchlichkeit nachzuweisen, die sich der Avantgarde zugehörig fühlte und sich im Grunde doch auf ein überholtes Bild der Avantgardekunst stützte; er zeigte ganz allgemein die entscheidende Rolle auf, die die Institution in der Auswahl dessen spielt, was das Publikum sehen will, das heißt was als Kunstwerk anerkannt wird oder eben nicht. Er zeigte so, dass „Kunst“ weder eine intrinsische Eigenschaft der Objekte selbst ist noch eine Art Fluidum, das der Künstler seinen Objekten injiziert, sondern das mehr oder weniger willkürliche Resultat einer institutionellen Auswahl.

 

DER VATER: Die Pose Duchamps war sicher revolutionär und nützlich in ihrer Zeit, einer Epoche, wo es etwas völlig Neues war, einen vorgefundenen, industriell gefertigten Gegenstand in den Raum der Kunst einzuführen. Aber heute ist diese Geste banal geworden, und der provokante Effekt stellt sich nicht mehr ein. Daher berührt mich eine solche Vorgehensweise auch nicht.

 

DER KUNSTHISTORIKER: Wenn sich die Intention Duchamps auf simple Provokation beschränkt hätte, wäre sie, wie Sie ganz richtig gesagt haben, nur von kurzer Dauer gewesen. Die Künstler sind nicht blöd: Sie haben sehr wohl gespürt, dass das Readymade nicht einfach nur Provokation war, sondern vielmehr ein neues Medium, das neben die anderen trat, die Malerei, die Holz- und Steinbildhauerei etc., und das neue künstlerische Ideen möglich machte. Man muss sich klarmachen, dass Duchamps Verwendung des Readymades mit seiner Aufgabe der Malerei zusammenhing, eines Mediums, das seiner Ansicht nach zu sehr an einer bestimmten Ästhetik des visuellen Genusses hängt, das heißt im Grunde an der Norm eines Durchschnittsgeschmacks, und das so die Ausdrucksmittel der Künstler einschränkt. Daher postulierte er auch eine „visuelle Indifferenz“ als Auswahlkriterium für seine Readymades: Jeder beliebige Gegenstand, schön oder hässlich, industriell oder von Hand hergestellt, kann unter bestimmten Voraussetzungen zum Kunstobjekt werden. Die erste ist die Auswahl des Künstlers: Duchamp wählte die Dinge, aus denen er Kunstobjekte machen wollte, nicht aufgrund ihrer ästhetischen Qualitäten aus, sondern aus anderen Gründen: wie der Evokation von Bewegung (Fahrradrad), der Möglichkeit eines Wortspiels (peigne [Kamm] und „peindre“ [malen]), eines anthropomorphen Aspekts (Fountain), einer erotischen Konnotation (Underwood)...

 

Aufgrund der vermeintlich willkürlichen Dimension seiner Auswahlkriterien, des fehlenden ästhetischen Anliegens und der Vorherrschaft der Sprache sieht man in Duchamp den Vorläufer der Konzeptkunst. Wenn diese Merkmale auch existieren, so muss man doch vor allem den Charakter des Zufälligen bei diesen Entscheidungen betonen. Anders gesagt, überließ sich Duchamp, einfühlsam in der Begegnung mit den Dingen, seiner Intuition. Es waren die Dinge, die ihm Ideen eingaben, und nicht er, der passiven Objekten seine Ideen überstülpte. Übrigens sprach er bezüglich der Wahl seiner Objekte von „Zusammenstoß“ oder von „Rendezvous“. Während Ersteres die Zufälligkeit einer Begegnung betont, und den Schock einer Verbindung von Idee und Objekt, suggeriert Letzteres eine Beziehung auf Augenhöhe, einen Austausch. Duchamp hat sich nicht nur über die Institutionen mokiert, indem er banalen Gegenständen den Rang von Kunstwerken zuerkannte, alleine kraft seines Künstlerseins, – er hat auch das Wesen der Dinge verändert. Aus einfachen, passiven Objekten, aus Gebrauchsgeräten, hat er Partner gemacht. In einigen Fällen hat er übrigens das Objekt konkret verändert; um diese Metamorphose zu vollziehen, hat er ihnen etwa einen Titel hinzufügte (Dem gebrochenen Arm voraus), eine Signatur (Fountain), ein Foto (Obligation des Roulettes von Monte Carlo), etwas Malerei (Pharmacie) oder Haare (L.H.O.O.Q.) etc. Das nannte er „Assisted Readymades“...

 

DIE ANTHROPOLOGIN: Wenn ich mich mal einmischen darf – was du sagst, erinnert mich an die neue Theorie von Alfred Gell, einem Kunstanthropologen. In seinem Buch L’Art et ses agents (Art and Agency) legt er dar, dass der traditionelle Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt überwunden werden müsse und dass Verbindungen zwischen Handelndem und Behandeltem zu denken seien: Der Unterschied ist, dass Handelnder und Behandelter Positionen sind, die wechselseitig eingenommen werden können, je nach der Art ihrer Beziehung, während Subjekt und Objekt Kategorien sind, die das Wesen der Personen und der Dinge charakterisieren. So kann ein Mensch in einer Situation Handelnder sein, in einer anderen Behandelter; das Gleiche gilt für Dinge, wie einen Stuhl, einen Computer oder ein Kunstwerk. Wenn man deinen Erläuterungen folgt, bedeutet das, dass Duchamp die Gebrauchsgegenstände in Handelnde einer künstlerischen Beziehung verwandelt. Im Übrigen zitiert Gell Duchamp in seinem Buch...

 

DER KUNSTHISTORIKER: Da gießt du Wasser auf meine Mühlen. Die Wahl des Künstlers ist also die erste Bedingung, die das einfache Objekt zum Readymade, also zum Kunstwerk macht, das heißt zum „Handelnden“, um den Begriff aufzunehmen, den du von diesem Anthropologen übernommen hast. Die zweite Bedingung ist die Begegnung zwischen Readymade und Publikum, denn, wie Duchamp sagte, „es sind die Betrachter, die die Bilder schaffen“. Die Begegnung kann schieflaufen, wie 1917 mit Fountain. Sie kann ebenso gut auch gelingen: Das bedeutet dann nicht nur den Erfolg eines Werks, sein Weiterleben, sondern vor allem, dass der „Betrachter“ teil hat an der Begegnung, selbst aktiv ist, zu der Interpretation des Werks beiträgt.

 

DIE TOCHTER: Ich sehe, worauf Sie hinauswollen. Blümlein macht die von ihm ausgewählten Gegenstände zu „Readymades“ oder „Assisted Readymades“. Er organisiert das „Rendezvous“ mit dem Betrachter und verlangt von ihm eine gewisse Beteiligung, einen gewissen Sinn fürs Verstehen. Aber wie kommt man vom „Rendezvous“ zum Gespräch?

 

DER KUNSTHISTORIKER: Sehr gute Frage. Auch hier gibt uns die Geschichte die Antwort. Burkard Blümlein ist ein deutscher Künstler, und wie alle seiner Generation, deren Ausbildung in die 80er Jahre fiel, war er für das Werk und die Persönlichkeit von Joseph Beuys sehr empfänglich. In seinem Fall war es weniger Beuys als Performer und Politiker, sondern eher Beuys als Bildhauer. Als Bildhauer aber, der bald mit schweren, traditionellen Materialien wie Holz und Bronze arbeitete, bald mit weichen wie Filz und Fett, der Formen und Objekte erfand oder auch Readymades produzierte, war Beuys kein echter Erbe Duchamps und auch kein Meister für Blümlein. Wenn Beuys auch auf Distanz zu Duchamp gegangen ist, so gab er doch zu, in seiner Schuld zu stehen. Obendrein ist es Beuys, der die Idee eingebracht hat, dass die Dinge miteinander ins „Gespräch“ treten, dass die Bilder eine gemeinsame „Sprache“ haben. Diese Idee kam ihm zuerst aus Überlegungen zur Zeichnung. Die zu zeichnenden Dinge, so erklärte er, tauchen nicht ex nihilo aus der Einbildung auf; es sei nicht der Künstler, der sie hervorbringt. In Wirklichkeit kommen die Dinge selbst auf den Zeichner zu, drängen ihm ihre Existenz auf. Ich habe eine Sammlung von Texten und Gesprächen, in denen Beuys sehr deutlich darlegt: „Ich setze mich erst hin (zum Zeichnen), wenn eine Notwendigkeit besteht, wenn sich irgendeiner meldet. Wenn sich keiner meldet, dann zeichne ich nicht. Also wenn sich irgendwo ein Gegenstand äußert, der sich darstellen will, wenn er sagt: Ich will jetzt, ich muss dargestellt werden, weil das nötig ist, dass ich dargestellt werde, dann zeichne ich erst.“ Auch Duchamp sagte, dass weniger er es gewesen sei, der das Readymade auswählte, sondern umgekehrt. Dieser Personifizierung des Dings, das dem Künstler seine Präsenz aufdrängt, entspricht die Idee, dass das Ding eine „Konstellation“ von Kräften sei, die von ihm ausströmen oder die es durchdringen, in dauernder Interaktion mit seiner Umgebung, den anderen Dingen, den Lebewesen. Mit der Zeichnung versuchte Beuys daher auch nicht, die sichtbaren Grenzen der Dinge zu fixieren, so wie in der klassischen Zeichnung, sondern vielmehr den Einflussbereich jener Kräfte zu bestimmen, die die Gegenstände durchdringen, und die Beziehungen, die sie mit den andern unterhalten. Daher die Idee des „Gesprächs“, die er 1979 in einem Interview vorstellt: „Ich glaube auch, dass die Sachen untereinander, ja miteinander tatsächlich ganz reale Verbindungen haben, und dass sie miteinander im Gespräch sind, so verschiedenartig die Sachen und oft mal die Formen und das, was angesprochen wird, auch sind.“ Ich gebe zu, diese Konzeption der Dinge ist ganz und gar nicht modern. Aber vergessen Sie nicht, dass Beuys seine Rolle als Künstler in der Gesellschaft so sah wie die der Schamanen in den animistischen Gesellschaften.

 

DIE ANTHROPOLOGIN: Man muss gar nicht so weit gehen, um solche Denkweisen zu finden. In Die Ordnung der Dinge hat Michel Foucault gezeigt, dass die europäische Wissenschaft in der Renaissance einer Konzeption folgte, die der von Beuys ziemlich nahe kommt: Die Dinge waren nicht fest in Kategorien physikalischer oder biologischer Arten eingeteilt, galten auch nicht als im evolutionären Prozess alle aus der gleichen Quelle hervorgegangen, sondern als durch Beziehungen der „Sympathie“ und der „Antipathie“ wechselseitig angezogen und abgestoßen, je nach ihrem Erscheinungsbild oder ihrer Zugehörigkeit zu den vier Grundelementen (Erde, Luft, Wasser, Feuer) oder zu den vier Eigenschaften, die jedes Wesen anrühren (kalt, warm, feucht, trocken). Der Wissenschaftler, der Arzt und selbst der Koch konnten so, wenn sie den Grad der Sympathie und der Antipathie zwischen den Dingen kannten, den Gang der Welt verstehen, Krankheiten heilen oder gesunde Gerichte zubereiten. Wenn ich dich so höre, habe ich den Eindruck, dass Beuys eine Anschauungsweise hatte, nach der die Dinge von den Kräften der Sympathie und der Antipathie bewegt werden, und seine Zeichnungen dienten vielleicht dazu, die Richtung dieser Kräfte zu verstehen oder sie zu kanalisieren.

 

DER KUNSTHISTORIKER: Dein Vergleich mit dem Arzt der Renaissance ist treffend, denn Beuys wollte, wie der Schamane, die Gesellschaft verarzten, in der er lebte. Er sagt: „Wenn man sich mit dem Messer geschnitten hat, dann soll man das Messer verbinden und nicht die Wunde.“ Mit diesem Paradox wollte er vielleicht andeuten, dass, für das Gemeinwohl der Gesellschaft, die Täter mehr Aufmerksamkeit benötigen als die Opfer. Aber er drückte damit auch seine Anteilnahme an den materiellen Dingen aus, von denen er glaubte, dass sie nicht bloß leblose Objekte seien, sondern auch Personen. Eine seiner Arbeiten ist übrigens ein direkter Nachhall auf den Aphorismus vom Messer: Magische Handlung von 1959, ein Küchenmesser, die Spitze der Klinge mit einem Stück Heftpflaster umwickelt. Das ist aber nur ein Beispiel. Beuys hat immer wieder gezeigt, dass er die Bedingungen für ein „Gespräch“ zwischen den Dingen schaffen konnte, indem er direkt reale Gegenstände verwendete, ohne den Zwischenschritt über die Zeichnung zu gehen. Anfang der 70er Jahre hat Beuys mit einer Praxis der Bildhauerei begonnen, die mit den traditionellen Techniken des Modellierens oder Skulptierens oder selbst der Assemblage nicht mehr viel gemein hatte, die vielmehr einfach darin bestand, irgendwelche Dinge „auftreten zu lassen“, seien es von ihm selbst produzierte Skulpturen, seien es vorgefundene Gegenstände, die er als Readymades einsetzte. So war zum Beispiel die Installation Voglio vedere le mie montagne (Ich will meine Berge sehen) im Museum von Eindhoven 1971 die Rekonstruktion eines Zimmers mit Möbeln, die aus dem Wohnhaus und dem ehemaligen Atelier von Beuys stammten. Beuys ist einer der Künstler, die die Praxis der Rauminstallation begründet haben, die heute so verbreitet ist – ein Beispiel ist die Arbeit von Blümlein in der Ausstellung, die wir gesehen haben. In einem anderen Maßstab ist Beuys auch einer der Ersten, die ein Ensemble von Objekten in Vitrinen gezeigt haben, und das ab 1967, in einer Ausstellung in Mönchengladbach. Da er nur wenige Mittel zur Verfügung hatte und mehr als zweihundert Objekte zeigen wollte, griff Beuys auf die leeren Museumsvitrinen zurück, die sich im Depot fanden. Seit 1972 ließ er dann seine eigenen Vitrinen herstellen, aus weißgestrichenem Holz und nur von einer Seite einsehbar. Die Vitrinen wie die Installationen ermöglichten es Beuys, etwas zu entwerfen, was Jean-Philippe Antoine, ein Pariser Kollege, als „Analogieplan“ bezeichnet, der auf einer, im Beuyschen Sinne, „plastischen Kraft“ basiert, das heißt: „Die Fähigkeit, zwischen völlig verschiedenen Dingen unterschiedlichster Herkunft Analogien herzustellen und sie mittels einer auf der visuellen Wahrnehmung beruhenden Operation in einem einzigen Raum oder Objekt zusammenzubringen.“ Die Installation oder Vitrine (Raum oder Objekt) muss man sich daher als eine „Komponierte Landschaft“ denken, die der Betrachter durchstreifen kann, sei es real wie im Fall der Installationen, sei es virtuell, von außen, wie im Fall der Vitrinen. Nur sind die einzelnen Elemente, die diese Landschaft bilden, nicht Bäume, Wiesen und Seen, sondern vielmehr Tafeln Schokolade, elektrische Apparate oder Fragmente von Skulpturen. Die Zusammenstellung dieser Gegenstände unterschiedlichster Art und Herkunft in einem einzigen Raum schafft ein Netz der Kraftströme, die die Dinge durchdringen, weil man sie nicht mehr isoliert wahrnimmt, sondern nach der Wirkung, die sie wechselweise aufeinander ausüben.

 

Der Kunsthistoriker wird von der Türklingel unterbrochen. Er steht auf, um zu öffnen. Zwei Personen stellen sich den Gästen vor, eine Ausstellungsmacherin sowie ihr Begleiter, ein Künstler, schon ziemlich angetrunken. Der Kunsthistoriker lädt sie ein, sich zu setzen und an dem Gespräch teilzunehmen.

 

DER KUNSTHISTORIKER: Wir sprachen gerade über Burkard Blümlein und seine Installation Still, a Conversation on Time in der Ausstellung Slow Burn. Ich habe versucht zu erklären, inwiefern er Joseph Beuys viel zu verdanken hat...

 

DER KÜNSTLER: Ich kenne Burkard gut. 1991-92 waren wir zusammen am Institut des Hautes Etudes en Arts Plastiques in Paris, das von Poltus Hulten geleitet wurde. Zu dieser Zeit fühlte sich Burkard Sarkis, der unsere Aktivitäten dort begleitete, recht nahe. Burkards Arbeit hat nicht den Anspruch der Arbeiten von Beuys, die Gesellschaft heilen zu wollen. Er versucht aber, ähnlich wie Sarkis, sich anhand geschichtlich aufgeladener Gegenstände mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen.

 

DIE AUSSTELLUNGSMACHERIN: Du betonst, wie wichtig für Blümlein die Erinnerung ist, wie auch die Vergangenheit, historische wie persönliche. Das stimmt. In der Installation für Slow Burn zum Beispiel spielte diese Porzellantasse mit dem zum Teil verkohlten Dekor eine Rolle. Sie stammt aus den Ruinen Würzburgs, seiner Heimatstadt, nach der Bombardierung 1945. Er hatte sie schon mal in einer Ausstellung gezeigt, eben in dieser Stadt, 2005, wenn ich mich recht erinnere. Er hatte auf einer dunkelfarbigen, nur wenige Zentimeter hohen Plattform am Boden verschiedene Dinge angeordnet, darunter einige, die auch in der Ausstellung in Tilburg auftauchen: das zerbrochene Geschirr, die Nüsse und den wieder zusammengeklebten Teller, die zwei Schnurknäuel, die verkohlte Wurzel und ihr Spiegelbild, einen Nagelfetisch... Dann gab es da noch eine ganze Reihe anderer, mehr oder weniger zerstörter und wiederhergestellter Dinge, Miniaturobjekte, wie sie in einer Wohnzimmervitrine oder einem Schlafzimmerregal stehen könnten, in einer Vitrine von Beuys vielleicht... Auf mich hat diese Anordnung im Raum einen sehr starken Eindruck gemacht. Die Gegenstände waren wie Figuren in einem Theaterstück aufgestellt; auf einer Bühne sprachen sie den Betrachter in einer Art Sacra Conversazione an, im Stil der stummen Figuren auf den großen venezianischen Altarbildern der Renaissance. Es war offensichtlich, der Gegenstand des Gesprächs hier war die Last der Geschichte.

 

Wo ich gerade von der venezianischen Renaissance spreche, wissen Sie, dass die rätselhafte Skulptur der Ausstellung in Tilburg – die mit dem achteckigen Rahmen, der rechteckigen Scheibe und den Glasmurmeln – eine Anspielung auf eine Gemälde Tizians ist? Auf die Eitelkeit der Welt aus der Alten Pinakothek in München, um genau zu sein: Eine schöne junge Frau hält einen Spiegel mit achteckigem Rahmen, in dem sich Schmucksachen, Perlen – Murmeln? – spiegeln. Blümlein hatte diese Arbeit für eine Gruppenausstellung konzipiert, für die jeder Künstler auf ein Gemälde des Museums reagieren sollte. Die Ausstellung fand schließlich nicht statt, aber er behielt die Arbeit. Übrigens ist Blümlein ein Freund von Interventionen in Museen für Geschichte und alte Kunst; und die Art und Weise, wie er das macht, zeigt, wie wichtig die Problematik der Geschichte für ihn ist. Was machen Künstler normalerweise, wenn sie von Kuratoren eines Museums für alte Kunst eingeladen werden, etwas in ihren Räumen zu machen? Sie integrieren ihre Arbeiten in die Sammlungen, im Dialog vielleicht, aber ohne etwas an den Sammlungen selbst oder an ihrer Anordnung zu verändern. Die zeitgenössischen Werke werden den anderen einfach hinzugefügt und sind oft durch eine unterschiedliche Beschilderung gekennzeichnet. Die Pistoletto-Ausstellung im Louvre ist ein aktuelles Beispiel dafür. Blümlein hingegen greift direkt in die Sammlungen und deren Präsentation ein. Er verwischt die Spuren zwischen alt und neu, er verändert von innen heraus das Instrument Museum. Das hat, glaube ich, 2007 angefangen, zuerst im Museum für Kunst und Geschichte in Montbéliard, dann im Wittelsbacher Schloss in Friedberg. Das Museum in Montbéliard befindet sich in einem alten Stadtpalais, nicht weit von einer sehr schönen protestantischen Kirche aus dem 16. Jahrhundert. Es beherbergt Sammlungen unterschiedlicher Gegenstände aus dieser Epoche und bis ins 19. Jahrhundert, die aus Privatsammlungen ortsansässiger Familien stammen. Meist griff Blümlein in die Vitrinen des Museums selbst ein, fügte einfach Gegenstände hinzu, die er als „Gäste“ bezeichnet: einen Abguss seines Daumens in einer Reihe von Siegeln aus dem 17. und 18. Jahrhundert, zwei Plastikfigürchen inmitten einer geräumigen Vitrine mit Kelchen und Kannen aus Metall sowie zwei Radierungen, Portraits von Luther und seiner Frau, einen Schmetterling umgeben von traditionellen Hauben aus dem 19. Jahrhundert sowie ein gepunktetes Tüchlein in einer Familie von karierten Tüchern... In Friedberg, im mittelalterlichen Wittelsbacher Schloss, umgebaut in der Renaissance, war das historische Ambiente noch deutlicher spürbar, die Sammlungen auch chronologisch umfassender, da sie bis zu Fundstücken aus der Steinzeit reichen. Als hätte er seit Montbéliard an Selbstvertrauen gewonnen, vervielfachte er seine Interventionen, ohne dabei den didaktischen Sinngehalt der einzelnen Vitrinen zu entstellen, und schuf so eine Art Gleichgewicht, das darauf zielte, Verwandtschaften zu etablieren zwischen Altem und Neuem, Kostbarem und Läppischem, Gelehrtem und Populärem. Ein Sandkastenspielzeug aus buntem Plastik thronte da auf einem komplizierten antiken Uhrwerk ganz aus Holz und Metall; ein einfacher geflochtener Weidenkorb war in einer Vitrine unter prachtvoll geschmückten Brautkronen platziert; die zwei Plastikfigürchen traf man auf einer kleinen Truhe unter einer alten Waage wieder an; eine simple weiße Tasse, mit einem gewöhnlichen Kaffeelöffel versehen, prangte zwischen wertvollen Sonnenuhren von Seefahrern; eine ganze Reihe von Gerätschaften aus der Römerzeit (Schlüssel, Messer, Ringe...) hatte Blümlein von Hand in Knete kopiert; seine Geschirrscherben hatte er logischerweise mit fragmentarischen Fundstücken aus der Steinzeit zusammengebracht und ein wiederhergestelltes römisches Tongefäß mit einer Art Gefäß aus Glas- und Spiegelscherben (das auch schon in Würzburg dabei war, wenn ich mich recht erinnere); überraschender hingegen waren die hinduistischen und muslimischen Gebetsschnüre, die zwei Abflusssiebe und der Ihnen bekannte Abakus mitten unter Gegenständen aus der Jungsteinzeit (Pfeilspitzen, Keramikscherben, Flöten...). Vor zwei Jahren schließlich hat sich Blümlein im Museum für Kunst und Geschichte der Provence in Grasse für eine andere Interventionsform entschieden: Dieses Mal fügte er kein einziges Objekt hinzu; er beschränkte sich darauf, aus den Sammlungen dieses Museums, das sich von den Küchenräumen bis zum großen Salon als Herrenhaus des 19. Jahrhunderts präsentiert, diejenigen Objekte zu entnehmen, die ihn interessierten, und sie in den für ihn vorgesehenen Vitrinen neu zu arrangieren. An die Stelle jedes entnommenen Objektes platzierte er jeweils ein Hühnerei. So konnten die Besucher den ursprünglichen Platz der Objekte und das dort verbliebene Informationsschildchen wiederfinden – ein wenig wie in diesen Kinderspielen, wo man ein Bild mit einem Namen verbinden muss.

 

DER KUNSTHISTORIKER: All das erinnert mich an den amerikanischen Künstler Mark Dion, einem anderen Spezialisten für Interventionen in Museen. Dion hat eine echte Leidenschaft für Museen, insbesondere für naturgeschichtliche ethnographische Museen. Aber er hat auch an Wissenschaftsgeschichte und an Sammlungen einen Narren gefressen. Die Art und Weise, wie Dokumente gesammelt und gezeigt werden und die sich im Laufe der Zeit immer wieder ändert, gibt für ihn nicht nur Hinweise auf die wissenschaftlichen Entwicklungen, sondern zeugt auch von der Kraft visueller Modelle, die dem Betrachter eine bestimmte Form von Wissen, eine bestimmte Erzählung von Wissenschaft diktieren. Was die Sammlungen ethnographischer Museen angeht, ist das sehr deutlich, von ihrer Gründung während der Kolonialzeit bis zu ihrer Umstrukturierung heute, im Zeitalter der „Postcolonial Studies“. Aber Dion interessiert sich auch für alte Formen des Museums, für die Kunst- und Wunderkammern zu Beginn der Neuzeit, und für das Wissen dieser Zeit...

 

DIE ANTHROPOLOGIN: Genau davon habe ich ja gesprochen, im Bezug auf Michel Foucault, die Renaissancegelehrten, Robert Fludd, Athanasius Kirchner, Giulio Camillo...

 

DER KÜNSTLER: Es ist doch immer das Gleiche mit euch Kunstgeschichtlern und Kunstkritikern. Um einen Künstler zu verstehen, steckt ihr ihn in eines eurer Schubfächer. Ihr begreift einfach nicht das Eigenständige an einer Herangehensweise. Der Ansatz von Burkard hat für mich nicht viel mit dem von Mark zu tun, ein Freund, wenn auch nur oberflächlich. Der große Unterschied zwischen den beiden ist, glaube ich, dass Mark ein Theoretiker ist, der mit Objekten denkt, während Burkard ein Bildhauer ist. Und ein Bildhauer interessiert sich zunächst einmal für Formen, und die Verbindungen, die Burkard zwischen den Dingen schafft, sind zunächst einmal formal. In Grasse brachte er zum Beispiel ein irdenes Trinkgefäß aus dem Krankenhaus mit einer Nuckelflasche aus Glas und einer Muschel zusammen, weil sich bei allen dreien ein rundes Behältnis zu einer feinen Öffnung verschlankt; und welche Verbindung besteht zwischen dieser eigenartigen Flöte, die wie ein Gießgefäß für Saucen aussieht, der antiken Öllampe und dem menschlichen Schädel mit Löchern? Das Loch, genau. In anderen Fällen brachte die Annäherung die Gegensätze ins Spiel: Neben einen gelben Servierteller aus Steingut (18. Jahrhundert) platzierte er eine Art braune Kürbisflasche in Form einer abgeflachten Kugel: Beide Gegenstände haben in etwa den gleichen Durchmesser, nur ist der eine konkav und der andere konvex. Diese Gegenüberstellungen sind ziemlich simpel, aber effizient. So war das auch in einer sehr schönen Ausstellung letztes Jahr in Landshut, in der Kunst- und Wunderkammer auf der Burg Trausnitz. Zum Beispiel hat er in einer Vitrine neben metallenen Astrolabien aus dem 17. oder 18. Jahrhundert, echten kleinen Schmuckstücken, scheibenförmigen Instrumenten für astronomische Berechnungen, eine ausgebaute Computerfestplatte platziert, auch rund und aus Metall. Oder die Kombination aus einem facettierten Felsbrocken aus den Bruchstücken eines mattierten Spiegels mit zwei großen Splittern Felskristall aus der Sammlung. Manchmal sind die Gegenüberstellungen ziemlich drollig, wenn er etwa ein kleines Plastikkrokodil zu Füßen eines echten Krokodils stellt – unverzichtbarer Bestandteil jeder Kunst- und Wunderkammer –, in der gleichen Position, beide mit aufgerissenem Maul. Manchmal sind sie geheimnisvoller; wie etwa diese Bronzestange, die wie ein abgenagter Knochen aussieht und offenbar aus übermodellierten Ästchen gemacht ist, vor einer strauchförmigen roten Koralle – als wollte er das Fremdartige dieser Form hervorheben, die sowohl der tierischen, der pflanzlichen als auch der mineralischen Welt angehört. Man könnte hier unzählige Beispiele nennen. Nehmt die Ausstellung in Tilburg; es ist offensichtlich, dass es eine formale Verknüpfung gibt zwischen dem von einem Baum durchquerten Schrank, dem von einer Sanduhr durchdrungenen Tisch und den vom Goldfaden durchzogenen Gläsern.

 

Und dann gibt es bei Burkard auch formale Zitate anderer Werke. Zum Beispiel hatte er eine Vitrine der Ausstellung in Montbéliard zur Idee des Maßes konzipiert. Er hatte unterschiedliche Messinstrumente aus dem Museum zusammengestellt (Maßstäbe, Zirkel, einen Sextant, einen Fuß von Montbéliard...), denen er drei verschiedenfarbige Schnüre zuordnete, parallel nebeneinander befestigt, aber nicht gespannt, von gleicher Länge, aber natürlich mit leicht unterschiedlichen Krümmungen: eine eindeutige Anspielung auf die drei Stoppages étalons von Duchamp. Schenk mir doch noch mal ein, bitte.

 

DIE AUSSTELLUNGSMACHERIN: Das ist amüsant, denn er selbst wird auch zitiert. 2007 hat das dänisch-norwegische Künstlerduo Elmgreen und Dragset Drama Queens inszeniert, ein Theaterstück für eine Ausstellung in Münster, das aus einer Diskussion zwischen Meisterwerken der Skulptur des 20. Jahrhunderts bestand (ein Gehender von Giacometti, ein Rabbit von Jeff Koons, eine Brillo Box von Andy Warhol...). Der Unterschied zu den Gesprächen Blümleins lag darin, dass es sich bei Elmgreen und Dragset um berühmte Skulpturen handelte, dass sie sich ferngesteuert auf der Bühne bewegten und dass eine aufgenommene Stimme sie tatsächlich sprechen ließ. Trotz allem ist der Zusammenhang doch ziemlich deutlich. Vielleicht sogar mehr noch bei dem Werk eines jungen anglo-französischen Künstlers, Alexandre Singh, der eine Art Synthese zwischen der Arbeit Blümleins und Drama Queens bewirkt hat, und zwar in einem Stück, das er 2010 realisierte: The School of Objects Criticized. Wie schon beim nordischen Duo handelt es sich um ein Gespräch mit aufgenommenen Stimmen, aber wie bei Blümlein setzte dieses Gespräch Alltagsgegenstände in Szene: einen Toaster, eine Zugfeder, eine Packung Waschmittel, etc. Das Gespräch anlässlich eines mondänen Dinners entwickelte sich zu einer Debatte zwischen Anhängern und Feinden zeitgenössischer Kunst. Ein letztes Beispiel noch, das das zeitgenössische Echo auf Blümleins Arbeit zeigt. In Montbéliard hatte er mehr oder weniger gebrauchte Seifenstücke neben einen kleinen Block aus poliertem Aluminium gelegt. Nun wurde letztes Jahr, ebenfalls in Montbéliard, allerdings im Schloss der Herzöge von Wurtemberg, eine Ausstellung zu zeitgenössischer Kunst und Archäologie organisiert; Zeitgenössische Archäologien hieß sie, glaube ich. Und ich erinnere mich an eine Arbeit von Adrien Missika, einem etwa dreißigjährigen Künstler, der momentan recht erfolgreich ist: ein Regal, auf dem er eine Reihe gebrauchter Seifen angeordnet hatte... Die Anspielung auf die Vitrine Blümleins schien mir eindeutig. Seine Arbeit hätte in dieser Art Ausstellung auch auftauchen können, handelt sein Werk doch gerade von Themen wie Abnutzung, Spuren, Erinnerung, von der Zeit, die über die Dinge hinweggeht.

 

DER KUNSTHISTORIKER: In diesem Zusammenhang kommt mir der Name Aby Warburg in den Sinn. Die Verbindungen zur Arbeit Blümleins sind vielleicht nicht so direkt wie bei anderen heutigen Künstlern, die explizit den großen Historiker der Bilder zitieren, aber sie sind nicht weniger fruchtbar. Was ich meine, ist Sinnstiftung durch die Technik visueller Assoziation, durch das Zusammenbringen mehrerer Bilder, wie Warburg es in seinem Mnemosyne Atlas in den 20er Jahren so meisterhaft praktiziert hat – eine sehr moderne Technik, war sie doch zeitgleich mit den Techniken der Montage, die in diesen Jahren im Film praktiziert und theoretisiert wurden. Was nun aber uns daran interessieren könnte, ist die Tatsache, dass der Bilder-Atlas für Warburg nicht einfach eine Gedächtnisstütze war, sondern ein Mittel des Erkenntnisgewinns: Die Bilder auf den Tafeln waren nicht fixiert, man konnte sie verschieben und kombinieren, wie man wollte, entsprechend der Hypothesen und visuellen Experimente, die der Historiker aufstellte. Kurzum, Warburg dachte nicht in Texten, sondern in Bildern. Für mich als Kunsthistoriker ist das als Denkweise sehr verwirrend und auch sehr stimulierend, nähert es sich doch in meinen Augen mehr der Herangehensweise eines Künstlers an. Das ist im Übrigen die These der Ausstellung, die Georges Didi-Hubermann 2011 zum Atlas organisiert hat (ich habe sie in Karlsruhe gesehen, aber sie machte auch Station in Hamburg und Madrid): Er hatte Mnemosyne mit einer ganzen Menge Arbeiten von Künstlern des 20. und 21. Jahrhunderts zusammengebracht, die ebenfalls Bilder-Atlasse zusammenstellten – wie um zu zeigen, dass Warburg der Erste und Beste unter ihnen war. Abschließend möchte ich noch anfügen, dass Didi-Hubermann einen sehr schönen Ausdruck von Warburg zitiert, um dessen Methode zu erklären: Er spricht von einer „Ikonologie des Zwischenraums“. Ich finde es durchaus überzeugend, die Gespräche Blümleins als solch eine ikonologische Erkundung des Zwischenraums zu sehen, nur dass er sie nicht mittels fotografischer Reproduktionen betreibt, sondern sich ihr mithilfe realer Gegenstände widmet.

 

DER KÜNSTLER: Ok, ich gebe zu, die Gegenüberstellung ist aussagekräftig. Solange man auf einer bestimmten Ebene theoretischer Allgemeinheit bleibt. Es ist aber doch zu kurz gegriffen, wenn man sagt, dass Burkard, wie Warburg, mit Montage arbeitet und dass er sich, wie Warburg, für die Vergangenheit und die Erinnerung interessiert. Ihre Ziele sind unterschiedlich. Wenn Warburg auch Künstler inspiriert hat, woran ich nicht zweifle, so hat er doch seinen Atlas in wissenschaftlicher Absicht erstellt, also um die menschliche Erkenntnis voranzubringen. Und da zeigt sich der Unterschied zu Burkards künstlerischer Perspektive deutlich. Seine Objektmontagen sind zuallererst formal. Und wenn er die Erkenntnis von etwas voranbringt, dann die von bildhauerischer Praxis. Bislang habt ihr noch nicht viel über die Titel seiner Dingzusammenstellungen, seiner Vitrinen und Installationen gesprochen. Seine Titel sind aber sehr aufschlussreich in Bezug auf das, was er da jeweils in den Blick nehmen will. Ihr habt zum Beispiel diese Vitrine in der Friedberger Ausstellung angesprochen, für die er die Objekte aus der Römerzeit nachmodelliert hat. Den Titel der Vitrine habt ihr aber nicht erwähnt: Die tägliche Neuerfindung der Welt. Eine andere Vitrine, in der ein Trichter aus zwei Flaschenhälsen symmetrisch zwei Fächer voller Töpferscherben miteinander verband, hieß Beiderseits ausatmen. Was sagen uns diese Titel? Erstens sind es Handlungen. Zweitens haben sie eine doppelte Bedeutung. Sie haben eine wörtliche Bedeutung, beschreiben Burkards Eingriff in die Vitrine als einen Kommentar der archäologischen Objekte. In Die tägliche Neuerfindung der Welt weist er auf das Banale und den alltäglichen Nutzen der ausgestellten Objekte hin, und paradoxerweise behauptet er gleichzeitig, dass sich im Leben nie etwas identisch wiederholt. Und in Beiderseits ausatmen sagt er auf den ersten Blick einfach, das von ihm installierte Objekt diene dazu, durch seine beiden konischen Öffnungen Luft auszulassen – wobei er die so entstehende physiologische Anomalie betont (denn ein Körper sollte doch im Wechsel aus- und einatmen). Aber die beiden Titel haben auch eine metaphorische Bedeutung, die mich mehr interessiert, weil sie meiner Meinung nach die Bildhauerei selbst betrifft, als Praxis. Die tägliche Neuerfindung der Welt – ist das nicht, was der Bildhauer macht, indem er neue Arbeiten produziert? Und Beiderseits ausatmen – ist das nicht eine Form, den Atem – das heißt den Geist – des Bildhauers weiterzureichen, sowohl zum Realen als auch zum Imaginären hin? Und so könnte man mit allen Vitrinen der Ausstellung weitermachen: Die Arbeit dreht sich im Kreis, Frühe Gesten etc. Aber Burkard braucht die Titel nicht einmal, um sein Interesse für die Gesten des Bildhauers anzudeuten. In Grasse hatten die Vitrinen keine Beschriftungen, und doch war ihre Bedeutung sonnenklar. Ich war vor allem von der ersten Vitrine sehr beeindruckt, in der sich nur fünf Objekte befanden, darunter zwei steinzeitliche Feuersteine neben einer kleinen Holzskulptur von einer menschlichen Figur. Sie wirkt bis auf die Beine und das vierbeinige Tier, das sie begleitet, völlig abgenagt. Von der Form her ähnelten sich die Feuersteine und die Skulptur gar nicht; aber von der Geste her konnte man sich die gleiche skulpturale Handlung vorstellen, die es ermöglicht hatte, die Feuersteine anzuspitzen und die Ähnlichkeit der Figur nach und nach zu zerstören.

 

DER KUNSTHISTORIKER: Ich erlaube mir, hier eine kleine Präzisierung einzuwerfen. Die Figur, von der Sie sprechen, war eine Heiligenfigur – das Museum verzeichnet sie als „Heiligen Markus“, auch wenn nicht mehr viel davon zu sehen ist. Aber vor allem scheint mir, dass die Bedeutung der Gesten, die zur Herstellung des Feuersteins und dieses Relikts einer Skulptur beigetragen haben, unterschiedlich ist – und das ist genau das, wovon Blümlein meiner Ansicht nach spricht. Im Fall des Feuersteins sind sehr präzise Gesten des Behauens in einer bestimmten Abfolge entwickelt worden, um zu einem Gebrauchsgegenstand zu kommen, einem Feuerstein, dessen Schönheit sich ganz und gar am praktischen Zweck orientiert. Unsere werte Anthropologin nickt mit dem Kopf. Im Gegensatz dazu ist der ‚abgenagte’ Heilige Markus das Resultat zweier sukzessiver Gesten. Zuerst die des Bildhauers, der der Figur Form und Leben gegeben hat, indem er das Holz geschnitzt und mit Farbe bedeckt hat: eine Geste sowohl der Andacht als auch der Kunst, wenn es auch nur ein lokaler Künstler war. Die zweite Geste ist die anonyme von Hunderten, vielleicht Tausenden von Gläubigen, die gekommen sind und mit ihren Fingernägeln an der heiligen Oberfläche der Skulptur gekratzt haben, um einen winzigen Splitter ihrer himmlischen Kraft abzubekommen. Eine Geste der Beschädigung, hält man sich an die aktuellen Kriterien der Konservierung von Kunstwerken in den Museen; aber immens bedeutungsvoll, was die emotionale Aufladung, die Tragweite der Frömmigkeit, was das Leben einer künstlerisch so bescheidenen Statue angeht. Wenn man sich mit formalen oder prozessualen Gegenüberstellungen begnügt, verfehlt man ganz sicher die tiefere Bedeutung der Gesten, die diese Objekte erzeugt haben, und auch den Sinngehalt der Verknüpfung, die Blümlein zwischen ihnen herstellt.

 

DER KÜNSTLER: Ok, in diesem speziellen Fall haben Sie vielleicht recht. Was machen Sie dann aber aus Burkards Ausstellung in Wiesbaden, 2011? Sie haben sie nicht gesehen? Das ist schade, denn das war meiner Meinung nach Burkards beste Ausstellung. Ihr Titel ist vielsagend: Grammatik. Burkards Gespräche erschienen hier tatsächlich als eine regelrechte Grammatik der Formen und der Bilder, immer anhand seiner Lieblingsobjekte. Das Gespräch drehte sich hier um die Frage, inwiefern ein Gespräch zwischen Gegenständen überhaupt möglich sei, und um eine systematische Analyse ihrer Sprache. Das heißt die Auswahlkriterien und die Gesten, die ihre Verknüpfung lenken. Die Objekte standen auf weißen Wandregalen, alle identisch, sehr sachlich. Burkards bevorzugte, in seinen Installationen immer wiederkehrende Assoziationen waren alle präsent. Aber hier waren sie wie aufs Essentielle reduziert. Zum Beispiel der Abakus und die durchlöcherte russische Puppe: Neben der Stimmigkeit der Farben (grün und beige) beider Objekte verband sie die Geste, unregelmäßig Punkte auf eine Oberfläche zu setzen – die Löcher der Puppe als Pendant zu den Kugeln auf dem Rechenstab. Das folgende Regal brachte eine Art Variation des vorausgehenden: Ein – nun aber regelmäßig – durchlöchertes Ei, die sechs Tischtennisbälle in ihrer Plastikhülle und die muslimische Gebetskette verfolgten weiter die Vorstellung von einer Form, die mit identisch sich wiederholenden Punkten besetzt ist; nur dass die Punkte, Perlen oder Löcher den gesamten verfügbaren Raum ausfüllten, so dass sie schließlich selbst die Form bildeten. Etwas weiter weg dann die geknackten und wieder zusammengeklebten Nüsse: zwei Gesten, wobei die zweite die erste nicht aufhebt, da die Bruchspuren sichtbar bleiben. Auf zwei weiteren Regalen zwei weiße Schnurknäuel, ähnlich, aber jeweils unterschiedlichen Gegenständen zugeordnet: einmal einer schwarzen Kugel mit gleichem Umfang und rissiger Oberfläche – hier war der Positiv/Negativ-Kontrast maßgebend –, das andere Mal einem durchsichtigen Glas, in dessen Wandung Mäander graviert sind – hier dominierte die Vorstellung von Schleife und Verflechtung. Und so wurde jede Geste betont, jede Form analysiert. Bedecken, durchdringen, polieren, einen Abdruck hinterlassen, im Gleichgewicht halten, zerbrechen, verbrennen, erstarren lassen... Tatsächlich sind die Gesten, die Burkards Skulpturen herausbilden, sehr gewöhnlich, wenn man genauer darüber nachdenkt; es sind Gesten des Alltagslebens. Und das ist die große Lektion von Professor Burkard: Bildhauerei ist keine außergewöhnliche Tätigkeit, Bildhauer ist nicht der, der unerhörte Gesten vollführt. Jeder betätigt sich im Alltag als Bildhauer.

 

DER VATER: So ein Quatsch. Ich soll Bildhauer sein, ohne es zu wissen? Ich habe nicht das Gefühl, dass ich Skulptur mache, wenn ich ein Ei in die Pfanne schlage, um es anzubraten.

 

DER KUNSTHISTORIKER: Warum denn nicht? Es gibt bestimmt auch eine Kunst des Eieraufschlagens, schon allein, dass das Eigelb heil bleibt… Er wendet sich dem Künstler zu. Abgesehen davon, wenn jeder Bildhauer ist, so ist doch nicht jeder Burkard Blümlein; und wenn ich mir anschaue, wie er elementare Gesten ausführt, wie er sie auf Dinge anwendet, die dafür manchmal alles andere als geeignet scheinen, wie er dabei manchmal selbst ihre Funktion oder ihren Gebrauch verfremdet, dann würde ich sagen, er ist nicht nur Bildhauer: Er ist Künstler, und eben darin ist er unverwechselbar. Zum Beispiel: Diese etwas didaktische Art, mit der er die Objekte auf Präsentationsregalen ausbreitet, ist völlig verschieden von dem, was Haim Steinbach mit seinen Regal-Skulpturen macht. Steinbach geht vom Träger aus, dem Wandregal, das er als Maßarbeit entwirft, wie eine echte Skulptur, ein Einzelstück, und anschließend findet er die Objekte, die dazu passen. Angeblich ist ihm die Idee dazu anlässlich der Anfrage befreundeter Sammler gekommen, die Objekte besaßen, aber nichts, um sie angemessen zu präsentieren. In diesem Sinn ist Steinbachs Arbeit sehr viel dekorativer. Die Gespräche Blümleins drehen sich um etwas, sie haben immer einen Inhalt, sie warten nicht nur mit einer formalen oder ornamentalen Spielerei auf.

 

DIE AUSSTELLUNGSMACHERIN: Die Träger sind trotz allem wichtig für Blümlein, vielleicht nicht so sehr wie für Steinbach, aber immerhin. Wenn Steinbach der ‚Regalkünstler’ ist, dann ist Burkard unbestritten der ‚Tischkünstler’. Vier Tische in Tilburg (wenn man die Platte auf Böcken dazuzählt). Fünf Tische in München letztes Jahr, darunter der mit dem Stundenglas, aber auch noch vier andere: insbesondere ein Holztisch, dem ein Bein abgesägt worden war und der dank eines massigen Steins, der auf der Tischplatte am anderen Ende platziert war, das Gleichgewicht hielt – der drohende Sturz war mit einem schmalen Glas angedeutet, das genau über dem fehlenden Bein stand. In diesen Fällen ist der Tisch – als Träger – ebenso Bestandteil der Skulptur wie die Dinge, die darauf platziert sind. Blümlein hat mir sogar einmal gesagt, dass er die Idee der Gespräche aufgrund von „Tischgesprächen“ hatte. Ich besuchte ihn im Atelier, und er war gerade dabei, an Tischen zu arbeiten. Auf einem von ihnen hatte er eine vergrößerte Radierung von Wols reproduziert, die er mit zwei abstrakt gemusterten Vasen aus der gleichen Zeit in einen Dialog brachte. Er sagte mir, dass diese Arbeit das Ergebnis von Überlegungen zur dekorativen Entwicklung der Abstraktion sei, ihres Verfalls im Dekorativen, gewissermaßen. Er zeigte mir auch Bilder seiner ersten Ausstellung mit Gesprächen, die ich leider verpasst hatte. Das war im Konvent La Tourette, Le Corbusiers Meisterwerk, wo manchmal Ausstellungen stattfinden. Auf fünf ausgewählten Tischen des Speisesaals hatte Blümlein da einige seiner bevorzugten Objekte installiert: die Seifen und den Block aus Aluminium, die zwei Schnurknäuel, die geknackten und geklebten Walnüsse, aber auch andere, ortsspezifischere, wie etwa ein Buch aus der Bibliothek des Konvents. Das war 2002, und die Gegenstände sprachen noch nicht wirklich miteinander. Aber die essentiellen Bestandteile der Grammatik, wie du sagst, waren schon da.

 

DER PHILOSOPH: „Essentiell“. Das Wort gefällt mir. Es wurde jetzt schon mehrfach benutzt, und ich habe den Eindruck, dass es sehr gut zu Blümleins Arbeit passt. Und auch wenn Sie sagen, dass er sich dem dekorativen Prinzip widersetzt, das bei diesem anderen Künstler dominiert, von dem Sie gesprochen haben, Steinbach – ist Dekoration nicht das Gegenteil des Essentiellen? Aber ich würde sogar noch weiter gehen. Ich würde sagen, Blümleins Kunst ist „spirituell“ – nicht etwa dass er in Esprit machen würde, im mondänen, Pariser Sinn – sondern tatsächlich im religiösen Sinn. Und dass sein erstes Gespräch im Konvent La Tourette stattgefunden hat, ist wohl kein Zufall.

 

DIE AUSSTELLUNGSMACHERIN: Wissen Sie, dass er Anfang der 80er Jahre, als er noch Student an der Kunstakademie Karlsruhe war, einige Monate in einem Benediktinerkloster in Montréal verbracht hat? Das erhärtet ja Ihren Gedanken.

 

DER PHILOSOPH: Das wusste ich nicht, bin aber erfreut, es zu erfahren. Als ich Sie so reden hörte und dabei die Bilder seiner Ausstellungen anschaute, kam mir nämlich ein Wort in den Sinn: „asketisch“. Sich nicht mit Unnötigem beschweren, keine spektakulären Effekte suchen, mit gigantischen Dimensionen oder luxuriösen Materialien, sondern gerade aufs Wesentliche zugehen: Das sind die Züge einer Askese, die Mönche und Künstler wie Blümlein gemein haben – denken Sie an die Ästhetik der Zisterzienser und an das so einfühlsame Buch, das Georges Duby, der große französische Mediävist, einst darüber geschrieben hat: eine Ästhetik der Kahlheit, des Steins und der Transparenz des Lichts. Das Licht ist bei Blümlein sehr wichtig, es ist ein Material, mit dem er plastisch arbeitet, wie mit Holz oder Metall. Ich sehe es an seiner Vorliebe für Glas, das natürlich das Licht durchlässt. Aber auch an einer Arbeit in Tilburg, die schon einige Jahre alt ist: einem Haufen Kartons, in einem Punkt durchbohrt, so dass ein Lichtstrahl ohne Unterbrechung alle Löcher durchquert. Ich sehe darin eine Metapher für die Unordnung der Welt – die Kartons, Symbole der nomadischen Waren, all dessen, was sich ändert und vorbeigeht, des Ungewissen – und das Licht in gerader Linie, Symbol einer höheren, spirituellen Ordnung. Ich habe übrigens bestimmte Verkündigungen aus der Renaissance im Kopf, wo der Maler einen Strahl göttlichen Lichts durch das Bild und die Dinge zieht, der schließlich ohne abzuweichen zur Jungfrau Maria gelangt. Im Übrigen manifestiert sich diese asketische Haltung meiner Ansicht nach in dieser äußersten Geduld, mit der Blümlein monotone, minimale Gesten wiederholt, wie Nüsse oder Teller zusammenkleben oder dutzende Löcher in eine russische Puppe oder ein Straußenei bohren, auch in seiner Vorliebe für Rosenkränze. Wenn die Geste aufgrund ihrer Wiederholung mechanisch wird, dann verlässt man den Bereich der Kunst und des Selbstausdrucks und betritt den des Selbstvergessens; dann fällt man entweder in die Verblödung der Fließbandarbeit, oder man erhebt sich zur Ekstase der Mystiker und zur buddhistischen Erweckung. Die Nichtigkeit dieser absurden Gesten wird zur Nichtigkeit aller materiellen Arbeit, die notgedrungen dem Vergessen geweiht ist. Vergessen wir auch nicht, dass Blümlein von der Zeit begeistert ist: der mythischen Zeit, die zerstört und neu schafft, aber auch der automatischen Zeit der Maschinen, die in seinem Werk immer wieder auftauchen und die ihm das Modell und die Vision einer ausdruckslosen Arbeit liefern, die er hervorzubringen sucht.

 

DIE ANTHROPOLOGIN: Ich bin da nicht so sicher wie Sie, dass die christliche Interpretation ausreicht, um Blümleins Kunst zu erklären. Schließlich geht es bei den Gesprächen darum, Dinge sprechen zu lassen wie Menschen – was eher von Animismus zeugt als von christlichem Naturalismus. Ein anderer Hinweis darauf, dass der „magische“ Hintergrund für Blümlein nicht unerheblich ist, scheint mir die Allgegenwart der Verdopplung. Fast alle Objekte, die er macht, sind Zwillinge oder Doppelgänger, umkehrbar oder gespiegelt. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, eine Skulptur machen ist für ihn ein Doppel schaffen. Das aber verweist uns zurück zu den anthropologischen Wurzeln des Bildes. Ich spreche nicht bloß vom Menschen, im jüdischen Mythos geschaffen als Ebenbild Gottes, sondern von der im Mittelmeerraum weit verbreiteten Idee, dass das Bild ein Double des Toten ist, ein Phantom, das ihn überlebt, die Materialisierung seiner unsterblichen Seele. „Colossos“ nannten die alten Griechen ein solches Skulptur-Doppel, das dazu diente, die umherirrende Seele, die „Psyché“, des Toten aufzufangen, ohne danach zu trachten, irgendeine Ähnlichkeit herzustellen. Aber die Doppelgänger bevölkern auch die Nacht der Träumenden, so wie Achilles von Patrokles träumte, und können sogar den Platz der Lebenden einnehmen, wie in der Geschichte von Sosia, die Plautus erzählt: Hier nimmt der Gott Merkur die Gestalt Sosias, eines Dieners des Königs Amphitryon, an, um Jupiter zu demaskieren, der sich selbst als Amphitryon ausgibt. Die Ägypter des Alten Reiches beerdigten ihre Toten von Rang in Mastabas und versiegelten die Totenkammer, in der die Mumie ruhte. Vor den Eingang platzierten sie ein Double des Toten, eine Statue nach seinem Bild, vor der die Lebenden ihre Opfergaben darbrachten und ihre Rituale verrichteten, als ob es der ins Leben zurückgekehrte Verstorbene selbst wäre. Ganz allgemein sind Zwillinge Gegenstand vieler Glaubensvorstellungen. In den indogermanischen Mythologien bilden sie den Ursprung vieler Dynastien; man sagte ihnen nach, dass sie über eine besondere Macht verfügen, die die ‚normalen’ Sterblichen beunruhigte. Es gebe zwischen zwei Zwillingen ein geheimnisvolles Band, eine „telepathische“ Verbindung, die faktisch dem zuzurechnen ist, was James Frazer als „sympathische Magie“ bezeichnet: Zwei sich ähnelnde Lebewesen sind so sehr miteinander verbunden, dass das, was den einen berührt, auch den anderen berührt. Freud spricht davon in Das Unheimliche: Für ihn entspricht die Kategorie des Doppelten zunächst dem „primären Narzissmus“ der Kinder und der Primitiven, die ihr eigenes Bild auf den Anderen projizieren, angeblich unfähig, Ich und Es, Wunsch und Wirklichkeit zu unterscheiden. Aber das Doppel überlebt auch im „erwachsenen“ oder „zivilisierten“ Stadium der Entwicklung, in den Neurosen und in der Kunst (die die ästhetisierte Form der Neurose ist). An diesem Punkt entsteht das Gefühl des „Unheimlichen“, wie in dieser bekannten Anekdote, in der Freud erzählt, dass er sich in einem Zugabteil befand und plötzlich sah, wie ein Herr im Abteil auftauchte und in seine Privatsphäre platzte. Schnell wurde ihm klar, dass er selbst es war, den er da in einem verborgenen Spiegel sah. Sein Doppel auftauchen zu sehen, ist beunruhigend, weil da, so Freud, unser primitiver oder kindlicher Hintergrund mit ihm auftaucht. Alles in allem ist da etwas Unheimliches an den doppelten Objekten Blümleins. Sie wissen, dass das Unheimliche auch eine Verbindung zum Vertrauten hat, zum Heim. Ohne jetzt in angewandte Psychoanalyse auf unterstem Niveau verfallen zu wollen, würde ich sagen, dass seine Arbeit darin besteht, das Fremde, Unvertraute der vertrauten Dinge zu zeigen: nicht einfach indem er sie als Skulpturen präsentiert, nach Art von Duchamp; vielmehr indem er sie als machtvolle Objekte zeigt. Bei dem Nagelfetisch wird das vielleicht deutlicher als bei den wieder zusammengeklebten Nüssen oder dem Plastikkrokodil; jedenfalls ist es genau das, was meiner Ansicht nach die ganze Logik seiner Installationen bestimmt und es ermöglicht, dass diese Gegenstände tatsächlich in ein Gespräch treten. Ich bin daher, anders als Sie (dabei wendet sie sich an den Künstler), weniger empfänglich für die stark reduzierten und didaktischen Installationen, wie die Ausstellung Grammatik, als für die, bei denen die Anhäufung der Objekte zwar Verwirrung schafft, aber eben auch einen stärkeren Eindruck von Kraft und Vitalität, wie die erste Ausstellung in Landshut.

 

DIE TOCHTER (beeindruckt vom Temperament und dem guten Aussehen des Künstlers): Apropos Verdopplungen, Ihnen allen wollte ich diese Frage stellen: Wissen Sie, wie Blümlein dieses weiße umgekehrte Doppel der schwarzen verkohlten Wurzel realisiert hat, die in einer der Vitrinen der Tilburger Ausstellung zu sehen war? Und wie hat er es geschafft, einen Kieselstein durch das Glas zu stecken?

 

DER KÜNSTLER: Er hat das Objekt dreidimensional eingescannt, hat das Bild am Computer gespiegelt und mit einem 3D-Drucker ausdrucken lassen. Früher zeigte er eine andere Version, bei der die spiegelverkehrte Reproduktion des Originals einfach in Ton modelliert und daher entsprechend ungenau war. Diese Spiegelverkehrtheit eines Gegenstands geht wohl in Richtung des fremdartigen Doppels, von dem Sie sprechen. Was den Kieselstein im Glas angeht, der ist falsch; genauer gesagt ein Abguss aus Kunststein nach einer Form aus Ton, dann aufs Glas geklebt.

 

DER VATER (der dem Charme der Anthropologin erlegen ist): Das ist einmal eine Erklärung, die mir gefällt. Denn ich muss kein Spezialist für zeitgenössische Kunst sein, um Sie zu verstehen. Was Sie sagen, berührt universelle Fragen; wir alle haben schon die Erfahrung des Unheimlichen gemacht. Auch mir ist die Prägnanz der doppelten Objekte bei diesem Künstler aufgefallen, aber ich habe darin anfangs bloß Einfallslosigkeit gesehen, wie ich gestehen muss. Wenn ich sie mir jetzt, nachdem ich Ihnen zugehört habe, noch einmal anschaue, bin ich viel zugänglicher für ihre Fremdheit, was in mir tiefliegende Schichten meiner Empfindung anrührt.

 

DER KUNSTHISTORIKER: Ich schließe mich Ihnen an und füge noch eine Referenz an – entschuldigen Sie, wenn es keine zeitgenössische ist. Leonardo da Vinci sagte: „Jeder Maler malt sich selbst.“ Damit wollte er zum Ausdruck bringen, dass jeder Künstler seine Persönlichkeit, seine Vorlieben in seine Werke projiziert. Anders gesagt, die Werke sind die Doppel des Künstlers. Man erkennt gleich, wie dieser Gedanke mit der Frage des „Stils“ zusammengeht: Stil als Merkmal der formalen und zugleich geheimnisvollen Verbindung zwischen dem Künstler und seinem Werk. Bei Blümlein hingegen, der Stil und Expressivität vermeidet, scheint die Formulierung Leonardos nicht so gut zu funktionieren. Es sei denn, man versteht, dass Blümlein mit seinen Objekten verfährt wie ein Romanschriftsteller mit seinen Figuren: Jede von ihnen repräsentiert einen Aspekt der fragmentierten Persönlichkeit des Autors. Michail Bachtin sprach vom „polyphonischen Schreiben“ des modernen Romans. Entsprechend könnte man, glaube ich, Blümleins Gespräche als „polyphone Skulpturen“ bezeichnen.

 

Aber ich sehe, dass die Zeit vergeht und es schon spät ist. (Zum Vater): Mein Herr, sind Sie nun von der künstlerischen Bedeutung der Arbeit Burkard Blümleins überzeugt? (Zur Tochter): Und Sie, junge Frau, haben Sie in dieser Unterhaltung mehr darüber erfahren können?

 

DER VATER (der mit der Anthropologin Telefonnummern ausgetauscht hat): Ja, sicher. Und ich habe auch entdeckt, wie faszinierend die anthropologische Herangehensweise für die Kunst sein kann.

 

DIE TOCHTER: Dieses Gespräch hat mich begeistert. Ich glaube, ich will Künstlerin werden.

 

© Thomas Golsenne